Auf den eigenen zwei Beinen – vom Wunsch zur Wirklichkeit

Wieder mobil sein; nur ein kleiner Spaziergang auf den eigenen zwei Beinen, das ist es, was sich viele schädel-hirnverletzte Patienten wünschen. Mit Disziplin, Durchhaltevermögen und entsprechenden Therapien kann dieser Traum durchaus Wirklichkeit werden. Wie bei dem jungen Erwachsenen Benjamin Rotter, der mit seiner Physiotherapeutin konsequent auf dieses Ziel hinarbeitet. Im folgenden Bericht schildert Physiotherapeutin Yvonne-Christin Pontow ihren gemeinsamen Weg.

DiagnoseAls ich Benjamin vor ungefähr drei Jahren kennenlernte war er 19 Jahre alt und seine Diagnose lautete schweres hirnorganisches Psychosyndrom nach Schädel-Hirntrauma mit spastischer Tetraparese, hervorgerufen durch einen Autounfall. Sein Gehirn hatte durch den Unfall in einigen Regionen Schaden genommen, die vor allem die erlernten Bewegungen und sein Gedächtnis stark beeinträchtigten. Er musste ganz von vorn beginnen; alle alltäglichen Dinge neu erlernen. Dazu gehörte sogar das Essen und Trinken. Außerdem war das Kurzzeitgedächtnis in Mitleidenschaft gezogen worden, Benjamin war nicht in der.Lage neue Informationen lange zu speichern. An alles vor dem Unfall erinnerte er sich, was danach passierte, war für ihn nur schwer festzuhalten. Seine Muskulatur besaß einige intakte Reflexe doch keine Bewegungsmuster, die Benjamin wie vor dem Unfall hätte nutzen können.

Bei meinem ersten Besuch lag der junge Mann im Pflegebett und war nicht in der Lage sich zu artikulieren, nur ein leichtes Nicken war ihm möglich. Er hatte eine stark überkreuzende Spastik in den Beinen, besaß keine Kontrolle über die Muskulatur seiner Extremitäten und seines Kopfes, der linke Arm hatte Verkürzungen in der Ellenbogenmuskulatur. Seine Füße wiesen eine starke Spitzfußstellung auf, wie bei einem Balletttänzer.

Um mit Benjamin arbeiten zu können, machte ich mir ein umfassendes Bild und ließ mir die wichtigen Details zusätzlich von seiner Familie berichten. Dazu gehörte auch, welche Therapien er bis zum Zeitpunkt seiner Entlassung aus der Reha erhalten hatte.

1. Etappenziel

Das erste Etappenziel stand fest

Danach stellte ich die entscheidende Frage. Welches Ziel setzt sich Benjamin? Da der junge Erwachsene zu diesem Zeitpunkt nicht für sich selbst sprechen konnte, antwortete seine Mutter mit einer Gegenfrage: „Wird mein Sohn je wieder laufen können?“ „Ja“, sagte ich, weil ich damals der Überzeugung war und es bis heute bin, dass das möglich ist. Doch zuerst erklärte ich der Familie, dass die Voraussetzung für das Laufen, das stabile Sitzen und Stehen ist.

Nun war das erste Etappenziel also festgelegt. Um einen guten Sitz zu erarbeiten brauchte Benjamin aber als erstes eine gute Kopfkontrolle sowie Beweglichkeit und Kraft in den Armen. Er musste lernen, sich im Bett allein zu drehen und dem Pflegepersonal, das engagiert wurde, um eine Grunddeckung zu erreichen und die Familie erstmal zu entlasten, bei den Alltäglichkeiten zu helfen. Dann wurden, wie in der Reha empfohlen Ergo- und Logopädie zusätzlich ins Haus bestellt, um einen bestmöglichen Lernerfolg zu gewährleisten.

Benjamin lernte, sich besser zu artikulieren, selbstständig zu essen und zu trinken. Schnell merkte ich, dass mein Patient außer an körperlichen Folgen auch mit seinen Erinnerungen zu kämpfen hatte. Außerdem ging ihm alles nicht schnell genug. Seine Mutter erzählte von kleinen charakterlichen Details, die sich verändert hatten. Er musste zum Beispiel alles kontrollieren und vertraute niemandem.

Therapiemöglichkeiten ausschöpfen

Um das gesetzte Etappenziel schneller zu erreichen, erarbeitete ich mit seiner Mutter einen Plan. Ich erklärte ihr, dass wir alle Therapiemöglichkeiten voll ausschöpfen sollten und welche Möglichkeiten hier zur Verfügung stehen. Hippo-Therapie Als weitere Behandlungsmöglichkeiten nannte ich die Arbeit mit dem Pferd oder mit dem Element Wasser. Im ersten Moment gefiel Benjamin die Idee der Hippotherapie nicht besonders, da er Pferde, wie er sagte, nur auf dem Teller gut findet. Dennoch willigte er ein. Die Hippotherapie erwies sich dann auch tatsächlich als eine enorme Bereicherung für die Weiterentwicklung der Motorik. Die Erklärung hierfür ist einfach: Ein Pferd bietet eine dreidimensionale Bewegung, die sich auf den Patienten überträgt. So erfährt er gleichzeitig Ent- und Anspannung der Muskulatur. Durch das Reiten lernte Benjamin außerdem Anderen wieder zu vertrauen, seine Spastik zu kontrollieren und seinen Rumpf zu stabilisieren. Sein Gleichgewichtssinn wurde – nachdem er seine Mitte gefunden hatte – aktiviert und die Koordination der Arme wurde besser.

im WasserAuch das Element Wasser regt alle Sinne an und verbessert so die Koordination, Konzentration, das Gleichgewicht sowie die Ausdauer. Der Patient hat im Wasser Widerstand und Stütze zugleich. Das ermöglicht dem Betroffenen, neue Bewegungsmuster leichter zu erarbeiten und zu lernen. Beide Therapieformen haben es Benjamin erleichtert, zu stehen und sogar ein paar Schritte zu laufen.

Stehen im EasyStandSchon in der Reha war das Stehen thematisiert worden. Ein Stehgerät von der Firma Moso – der EasyStand – wurde empfohlen und beantragt. Nach kurzer Wartezeit wurde es geliefert und Benjamin konnte zusätzlich zur Therapie das Stehen mit seinen Familienangehörigen trainieren. Nach einer kurzen Einstellung und ein paar wenigen Erläuterungen, sollte sich nun ein Ziel mehr erobern lassen. Doch ich stellte fest, dass das Stehen nicht so wirkungsvoll war wie ich gehofft hatte. Benjamin klagte über Beschwerden und ich war hilflos, weil ich notwendige Veränderungen am Gerät nicht vornehmen konnte; Erweiterungen waren durch die Größe meines Patienten schwer zu bekommen. Schließlich wandte sich die Mutter direkt an die Herstellerfirma Moso, die daraufhin einen Mitarbeiter zu der Familie schickte. Dieser kam mit Begeisterung und Überzeugungskraft ins Haus, um uns zu zeigen, wie wir den Einsatz des Gerätes verbessern könnten. Der Außendienstmitarbeiter stellte aber letztlich fest, dass Benjamin mittlerweile mehr gelernt hatte, als er im Stehständer zum Einsatz bringen könnte. Also empfahl er uns den EasyStand Glider. Mit diesem Trainingsgerät konnte Benjamin nun seine Wadenmuskulatur aufdehnen und gleichzeitig Arme und Rumpf trainieren. Das Gerät brachte den gewünschten Erfolg.

 

Wir haben schon jetzt viel erreicht

Bis heute haben wir viel erreicht. Trotz kleiner Zwischenstopps – so musste sich Benjamin noch einer Operation an den Achillessehnen mit anschließender Reha und einigen Botoxbehandlungen unterziehen – ist er heute in der Lage allein zu stehen und sich selbst zu halten. Mit wenigen Hilfsmitteln wie zum Beispiel einem Rollator kann er sogar gehen. Benjamin kann sich bei den kleinen Dingen im Alltag behelfen, sich ohne Hilfe anziehen oder zur Toilette fahren beziehungsweise gehen. Er fährt Go-Kart und schläft statt in einem Therapiebett in einem Wasserbett. Mittlerweile sind seine neuen Ziele wie weitestgehend freies Laufen und Autofahren nicht mehr allzu weit entfernt.

AnimationenInfocenterSupport

Yvonne-Christin Pontow (Physiotherapeutin)

Benjamin Rotter (Patient)

„not“ Ausgabe 02/2013

www.not-online.de