Kleine Schule des guten Stehens

Text: Physiotherapeut (Spezialgebiet Querschnittlähmung)

Als ich vor 17 Jahren als Physiotherapeut in den Kliniken mit querschnittgelähmten Patienten zu arbeiten begann, lernte ich gerade noch die „alte Schule“ des Stehens mit Hilfsmitteln kennen: Sobald ein Patient ausreichend Armkraft hatte, um sich in den Stand hochzudrücken, wurden Ihm „Schienenschellenapparate“ angefertigt und los ging es! Mit Hilfe dieser Schienen wurde verhindert, dass die Kniegelenke im Stand einknickten. Selbst bei komplett gelähmter Rumpfmuskulatur erlernte auf diese Weise jeder Patient im Gehbarren das Stehen und Gehen ohne Rücksicht auf die unphysiologisch starke Belastung vieler Gelenke. Seitdem hat sich die Philosophie des Stehens zum Glück erheblich verändert.

„Nicht um jeden Preis“ ist heute die Devise. Es wird darauf geachtet, dass beim Stehen Folgeschäden durch Überlastung von Gelenken, Bändern und anderen passiven Strukturen vermieden werden. Die besondere körperliche Belastung im Alltag eines Querschnittgelähmten ist sehr hoch und sehr einseitig. Entsprechend verantwortungsvoll sollte mit den körperlichen Ressourcen umgegangen werden, aber auch nichts ungenutzt bleiben. In diesem Bericht möchte ich das Stehtraining aus orthopädischer Sicht beleuchten.

positioniert StehenDurch die einseitige sitzende Position für Rollstuhlfahrer ist die Stehfunktion eine wichtige Ausgleichsposition für die Muskelelastizität, Gelenkbelastung und Elastizität des Kapselbandapparates der Gelenke im Sinne der Kontrakturprophylaxe (Vorbeugung gegen Muskelverkürzung). Besonderes Augenmerk des auf die Beckeneinstellung zu legen. Die Beckenposition bildet die Basis und definiert die Wirbelsäuleneinstellung in der Stehposition.

In der Sitzposition eines Rollstuhlfahrers sind die hüftbeugenden Muskelgruppen angenähert. Das natürliche Bestreben eines Muskels ist es, sich zusammenzuziehen. Schon bald nach dem Ereignis der Querschnittlähmung / Bewegungsverlustes beginnen sich diese Muskelgruppen zu verkürzen, wenn sie nicht regelmäßig täglich durch eine Veränderung der Ausgangsstellung in Form des Stehtrainings verlängert bzw. gedehnt werden. Muskelverkürzungen treten besonders dann auf, wenn nur eine Funktion der hüftbeugenden Muskulatur besteht, aber der Gegenspieler zur Hüftstreckung nicht aktiv ist.

Moderne Sitz- / Stehtrainer sind so konzipiert, dass sie von der sitzenden Position in den Stand führen. Das Becken ist als Schlüsselpunkt durch die Sitzbeine auf der Sitzfläche verankert. Unterhalb des Beckens bilden die Oberschenkel einen Abstützpunkt und oberhalb die Brustpelotte – über die Wirbelsäule. Im Sitzen sind die Abstützpunkte winklig einander zugeordnet. Während des Aufrichtens kommt es zur zunehmenden lotrechten Ausrichtung.

Das Aufstehen aus dem Sitz entspricht prinzipiell dem natürlichen Verhalten von Fußgängern und die Zuordnung der Abstützpunte beschreiben räumlich den gleichen Weg. Die Unterschied liegt allerdings in der Beckendrehbewegung bzw. Kippung nach hinten. Bei einem Fußgänger ist das Becken frei für diese entscheidende kleine Drehung um die Querachse und das führt zu dieser Rückkippung des Beckens. Sie wird automatisch muskulär geführt und findet kurz vor Erreichen des Strandes statt. Die Lendenwirbelsäule wird so natürlich gestreckt.

Schwächstes Glied in der Kette

Hyperlordose korrektes Stehen
falsch richtig

Wenn der Rollstuhlfahrer mit einem Stehgerät in den Stand wechselt, drückt die Sitzfläche das Becken ebenso nach vorne. Aber die in der Sitzfläche eingetauchten Sitzbeine verhindern diese Rückkippung des Beckens, also die Drehung um die Querachse. Die Lendenwirbelsäule wird in ein starkes Hohlkreuz gezwungen – im Fachjargon auch „Hyperlordose“ oder „übertriebenes Hohlkreuz“ genannt. Die übrige Wirbelsäule stellt sich wie ein zu scharf gebogenes „S“ ein. Diese Hyperlordose führt zu einer Kompression in den Wirbelgelenken und längerfristig zur Lockerung der Bandstrukturen und anderen Sekundärproblemen. Normal wäre aber ein lang gestrecktes, abgeflachtes „S“. Zur Vermeidung dieser Hyperlordose müsste eine „entlordosierende“ Bewegung durch das Becken über eine Bewegung der Sitzfläche bewirkt werden.

Wenn nun Verkürzungen der Hüftbeuger auch nur im geringsten Maße noch hinzukommen, wird der Effekt der Beckenrückkippung oder „Entlordosierung“ zusätzlich behindert. Eine Hüftstreckung wird trotz der Stehposition nicht erzielt und somit auch kein Aufdehnen der Hüftbeuger. Es geben also die vielen Gelenke der Wirbelsäule nach und werden zum schwächsten Glied der Kette.

In unserer Physiotherapieabteilung haben wir verschiedene Systeme von allen marktführenden Stehgerätherstellern. Nach individueller Auswahl und optimaler Anpassung können die Patienten die Systeme während des Klinikaufenthaltes im eigenverantwortlichen Training erproben. Für die häusliche Versorgung wird nach einer längerfristigen Erprobung, eine auf die individuellen Bedürfnisse ausgerichtete Stehversorgung verordnet.

Becken richtig stellen

In den vielen Jahren meiner Arbeit mit querschnittgelähmten Patienten ergab sich allerdings bei der Anpassung der Stehversorgung en immer wieder die Problematik der Beckenpositionierung. Bei den bisherigen Stehgeräten am Markt besteht nicht die Möglichkeit der physiologischen Beckenpositionierung im Sinne der Rückkippung zur Entlordosierung der Lendenwirbelsäule. Dies lässt sich nur unter therapeutischer Hilfestellung korrigieren, wodurch die Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit stark eingeschränkt wird.

Es bedarf eines Entlordosierungssystems, das den Schlüsselpunkt „Becken“ an den Sitzbeinen in die Rückkippung führt. Weiterhin sollte der Abstand der Abstützpunkte oberhalb und unterhalb des drehenden Beckens um die Querachse durch die mobile Sitzfläche nicht zu groß sein. Statt einer Brustpelotte, die zu viele bewegliche Gelenke inkludiert, ist eine Abstützung durch eine Bauchpelotte erheblich günstiger zur Entlordosierung der Lendenwirbelsäule. Mit einem solchen System wäre eine Entlastung der passiven Strukturen zur verbesserten Wirbelsäuleneinstellung zu erreichen.

Gemeinsam mit der Firma EasyStand habe ich Lösungen zu dieser biomechanischen Problematik erarbeitet, worauf hin das oben beschriebene Entlordosierungssystem entwickelt wurde, um eine optimale Beckeneinstellung in den EasyStand Stehtrainern zu erzielen.

Mit dem neu entwickelten „Entlordosierungssystem“ ist eine entscheidende Verbesserung für das Stehtraining Querschnittgelähmter und neurologisch betroffener Patienten gefunden worden, welche nahezu jedem Patienten die Möglichkeit gibt, seine Gesundheit und Lebensqualität in Eigentherapie zu schützen oder zu verbessern!

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